Unsere Elefanten

Vor Kurzem habe ich in einem Vortrag von einem Format erzählt, das wir in unserem Projekt vor über einem Jahr ausprobiert haben. Es stammt nicht von mir, aber ich war zumindest an seiner Entwicklung ein wenig beteiligt. Vor uns kam es schon bei der Amaryllis eG zum Einsatz, ein Projekt, mit dem wir seit vielen Jahren freundschaftlich verbunden sind.

Nach meinem Vortrag wurde ich gefragt, ob das Vorgehen irgendwo beschrieben wurde, und ich habe festgestellt, dass eine solche Beschreibung noch gar nicht vorliegt. Nun denn ...

Der Hintergrund: In jeder Gemeinschaft, und sei sie noch so klein, gibt es Themen, die nahezu allen geläufig sind, aber die "offiziell" nicht angesprochen und auf keiner Tagesordnung erscheinen - und wenn, dann verstecken sie sich hinter anderen Themen. Dabei sind sie tatsächlich enorm wirkungsvoll und mächtig - so groß, dass wir sie als unsichtbare "Elefanten im Raum" bezeichnen.

So etwas kennen wir in Familien (z.B. der Onkel, der von einem Tag auf den anderen verschwunden ist, seine Familie im Stich gelassen und sich woanders ein neues Leben aufgebaut hat, über den niemand spricht, aber der als Elefant immer mit dabei ist, wenn sich die Familie trifft), in Unternehmen (der Chef, der ein Verhältnis mit einer Kollegin hat, was für viel Gesprächsstoff und Unmut sorgt, aber über das nie jemand formell ansprechen würde), in Vereinen, in Nachbarschaften, in Freundesgruppen - und natürlich auch in  Wohnprojekten.

Den Elefanten benennen


Wenn es aber so schwer ist, über den Elefanten offen zu sprechen, ihm einen Namen zu geben - wie macht man ihn dann sichtbar? Die Idee war, dies in einem geschützten Rahmen zu tun. Und das läuft so ab:

Die Gruppe trifft sich und nimmt sich ca. 2 Stunden Zeit. Zu Beginn wird eine Minute geschwiegen, alles sammeln sich (Klangschale). Dann erklärt die Moderatorin das Vorgehen - wobei im Vorfeld schon erläutert wurde, was in dieser Runde geschehen soll, nämlich das offene Ansprechen von Elefanten!

Alle Teilnehmer erhalten einen Zettel, der bereits beschriftet ist. Zum einen mit einem kleine Elefanten, zum anderen mit einem Platzhalter für Datum und Name. Denn ein Grundsatz lautet, dass die Benennung nicht anonym erfolgt!

Jeder darf einen oder mehrere Elefanten auf seinen Zettel schreiben, das Datum dazu und seinen Namen. Dann faltet er den Zettel und legt ihn in eine vorbereitete Box. Wenn alle ihren Zettel abgegeben haben, übernimmt ein Mitglied der Gruppe das Vorlesen. Bei uns war das jemand, der noch ganz frisch war, erst vor kurzer Zeit eingezogen.

Ein Zettel nach dem anderen wird vorgelesen, allerdings OHNE Nennung des Autors. Die Idee dabei: Es soll sich ganz auf den Inhalt konzentriert werden, allen ist aber bewusst, dass am Ende alle Zettel öffentlich sind. Nach dem Vorlesen wird der Zettel an eine Pinwand gehängt - alternativ mit Wäscheklammer an eine Leine.

Danach müssen alle tief durchatmen und das Gehörte sacken lassen. Jeder kann an die Pinwand treten und noch mal nachlesen, auch den jeweiligen Autor ansprechen und Verständnisfragen klären. Diskutiert werden die Inhalte an diesem Tag nicht mehr.

Nach der Pause - vor dem nächsten Thema, falls die Elefantensuche in einen größeren Workshop eingebunden ist - werden die Zettel wieder abgehängt, gefaltet und einem Mitglied zur Aufbewahrung mitgegeben. Dann vereinbart die Gruppe einen Termin, an dem die Elefanten weiter bearbeitet werden.

Kleine Anekdote am Rande: Bei uns meinte ein neuer Nachbar, der frisch eingezogen war, beim abschließenden Feedback: "Komisch, ich bin noch nicht lange hier, aber es gab kein Thema, das ich nicht mindestens einmal gehört habe!"

Die Elefanten verarbeiten


Beim Folgetermin, an dem alle teilnehmen, die hierzu Lust haben, liegen auf dem Boden mehrere weiße Blätter mit Formaten für die weitere Bearbeitung, z.B. Bearbeitung in der Großgruppe, Bearbeitung in einer bestehenden Kleingruppe, Bearbeitung in einer eigens hierfür zu gründenden Kleingruppe, Freilassen (weil sich der Elefant schon durch die Benennung erledigt hat), Einfrieren (wenn niemand ihn im Moment behandeln möchte), im persönlichen Gespräch bei einem Spaziergang klären (mit und ohne Moderation) usw. Da gibt es sicherlich noch mehr Ideen. 

Allen ist bekannt, dass an diesem Tag keines der genannten Themen bereits bearbeitet wird, es geht lediglich darum, den Ort festzulegen, wo der Elefant aufgegriffen wird. Die Kiste wird geöffnet und gemeinsam wird Zettel für Zettel dort abgelegt, wo er hingehört. Außerdem wird festgelegt, wer dafür zuständig ist, dass der Elefant auch wirklich aufgegriffen wird, wer ihn z.B. als Thema für ein Gruppentreffen anmeldet. In der Regel der Autor selbst.



Damit endet das eigentliche "Elefanten-Format". Wobei in unserem Projekt noch ein weiterer Schritt erfolgte: Ein Mitglied bastelte einen wunderschönen Elefanten aus Sperrholz, gestrichen mit Magnetfarbe, an die nun die Elefanten gehängt wurden mit der Bitte an die "Besitzer", sie aufzugreifen und an der richtigen Stelle unterzubringen. 
Elefanten, die bereits geklärt oder sich von selbst erledigt hatten, wurden an davon fliegende Tauben gehängt und in die Freiheit entlassen.

Ein Hinweis: Die Methode setzt ein großes Vertrauen in der Gruppe voraus. Dass es funktioniert, wenn es bereits größere Konflikte und Auseinandersetzungen zwischen Mitgliedern gibt, ist kaum wahrscheinlich. Dann sollten diese sicherlich zuerst behandelt werden.