Demokratie ist anstrengend

So manche Dinge erlebt man in einem Wohnprojekt in kleinem Maßstab, die auf gesellschaftlicher Ebene im Großen stattfinden. Hier wie dort geht es um die Frage, wie man Dinge so regelt, dass möglichst viele zufrieden sind oder zumindest nicht unzufrieden sind. Der Preis dafür ist hoch. Man muss sich nämlich austauschen, und zwar ständig. Und immer wieder. Manchmal dreht man sich lange im Kreis, bis man sich zu einer Lösung durchgerungen hat, von der im besten Fall alle sagen: Das ist eine vernünftige Sache, auch wenn ich mir selbst vielleicht noch etwas anderes gewünscht hätte. 

Dieses Ringen um eine Einigung ist der Kern jeder demokratischen Gemeinschaft. Das ist anstrengend, manchmal sogar so sehr, dass man sich in die Zeit zurückwünscht, in der man in seinen eigenen vier Wänden, in seinem eingezäunten Garten mit klaren Grenzen zum Nachbarn schalten und walten konnte. Und sich maximal mit dem Partner und vielleicht noch mit den Kindern einigen musste. Das war mitunter schon anstrengend genug.

So kommt es vor, dass einzelne Mitglieder frustriert den Rückzug antreten nach dem Motto: "Dann entscheidet doch, was Ihr wollt. Ich geb's auf, mir sind das zu viele Diskussionen, zu viel Gerede, zu viele Menschen, die mitmischen." Zum Glück erleben wir in unserer Gemeinschaft, dass diese Nachbarn beim nächsten Mal dann doch wieder dabei sind und es erneut probieren, bis jetzt ist noch niemand ganz ausgestiegen. Aber die Gefahr besteht auch weiterhin.

Nur was ist die Alternative? Ganz klar: Eine Hierarchie, der starke Mann oder die starke Frau an der Spitze. Oder zumindest ein Vorstand. Der bekommt dann alle Befugnisse, um zu entscheiden in der Hoffnung, dass er weiser und gerechter ist als die Gruppe und hin und wieder dann auch mal so entscheidet, wie ich das gerne hätte. Oder am besten immer. Realistisch? 

Sicher nicht. Nur wird man dann nicht über die Mühsal der Entscheidungsfindung stöhnen, sondern über die Unfähigkeit des Vorstandes, über dessen Selbstherrlichkeit, seine Ignoranz, seine Unfähgkeit. So wie man über Vorgesetzte am Arbeitsplatz schimpft. Die ja, zu dumm, es ebenso nicht allen Recht machen können. 

Ich habe heute morgen ein Interview mit dem Historiker Christoph Nonn gehört über "Wie Demokratien enden". Spannend, vor allem die Hypothese, dass viele Menschen heute schon deshalb so unzufrieden mit der Demokratie sind, weil sie sich so sehr an ihre Vorteile gewöhnt haben, dass sie nur noch die Nachteile sehen. Und allen Ernstes glauben, alles wird besser, wenn ein Mächtiger das Ruder übernimmt und den lästigen Diskussionen, Kompromissen und Absprachen ein Ende bereitet. 

Ein bisschen so ist es im täglichen Miteinander: Wenn die Zeiten vorbei sind, in denen die Eltern für uns entscheiden, haben wir die Wahl: Immer wieder auf's Neue nach gemeinsamen Lösungen zu suchen oder nach jenen zu rufen, die uns das abnehmen.