Was sollen denn die Nachbarn denken?

Wir suchen ein neues Mitglied. Zum ersten Mal nach ziemlich genau zwei Jahren wird bei uns eine Wohnung frei. Das Thema "Mitgliedergewinnung" war in der Entstehungsgeschichte der Gemeinschaft natürlich ein ganz zentrales, und dass wir pünktlich zum Einzug vollständig waren, hat uns schon ziemlich stolz gemacht. Ebenso die Tatsache, dass in diesen zwei Jahren niemand gekündigt hat. Zwar haben wir einen Belegungsausschuss, der sich genau um dieses Thema kümmern soll, aber dieser hatte auf den letzten Mitgliederversammlungen lediglich in launiger Form berichtet, dass er nicht viel zu tun hatte und das ziemlich gut bewältigt hat.

Aber nun ist er mehr als beschäftigt. Nahezu jeden Tag kommen Anfragen rein. Viele Interessenten haben keine Vorstellungen vom genossenschaftlichen und generationenübergreifenden Wohnen und suchen "nur" eine Wohnung. Andere wiederum haben sehr dezidierte Ansprüche an die Umgebung, den Garten, die Wohnung, Kinderlärm beziehungsweise Ruhe, Hausordnung und vieles mehr. Oder erklären uns, was wir alles tun müssten, damit es ihren Vorstellungen entspricht. In den meisten Fällen stellt sich bisher heraus: Das passt nicht.

Um an neue Mitglieder zu kommen, ist eine gehörige Portion Kreativität gefragt, was immer wieder zu spannenden Ergebnissen führt. Eines davon: Lasst uns doch ein Betttuch beschriften mit "Mitbewohner gesucht" oder "Wohnung frei" und an die Hauswand in Richtung Kreisverkehr hängen. Von dort ist es gut sichtbar und weckt die Aufmerksamkeit. Das wird mit Sicherheit weiter erzählt und könnte viele Menschen erreichen.

Die Idee gefiel dem Belegungsausschuss, aber er hatte nicht mit dem Widerstand einzelner Bewohner gerechnet. Die nämlich verbanden ein Bettlaken an der Hauswand mit Hausbesetzerszene und verfallenen Immobilien und machten sich Sorgen, was wohl die Anwohner von dem seltsamen Haus und seinen Mietern halten könnten. 

So etwas passiert häufiger. Unterschiedliche Wertvorstellungen treffen aufeinander. Die bunt blühende Wildblumenwiese mögen die einen, den gemähten Rasen die anderen. Die selbst aus Paletten zusammen geschreinerten Hochbeete die einen, akkuraten Blumenrabatte die anderen. Ein regelmäßig geputztes Treppenhaus die einen, kein Problem mit Dreckklumpen an den Schuhen der Kinder und Hundepfoten haben die anderen.

Klar, dass es so etwas wie richtig oder falsch hier nicht gibt. Der eine mag es ordentlich und sauber, der andere locker und lässig. Und mit Geschmack hat das auch nicht unbedingt zu tun, eher mit Werten. Die wiederum haben ihren Urspruch in dem persönlichen Lebenshintergrund. Je nachdem, was wir in unserer Kindheit an Werten vorgelebt bekamen, haben wir diese übernommen oder sind ins Gegenteil verfallen, nach dem Motto: Ich strebe auf keinen Fall nach dem, was meine Eltern wichtig fanden. 

Manchmal denke ich, wir müssten noch viel mehr übereinander erfahren um verstehen zu können, warum jemand besonders empfindlich auf bestimmte Vorschläge und bei anderen völlig gelassen reagiert. Ob uns das helfen würde bei der Suche nach Lösungen?